Ausstellung

Mantel der Träume

Ungarische Schriftsteller erleben Wien 1873–1936

In Wien ist alles „nah“: nicht nur räumlich, doch auch im tiefen Gewässer des Bewusstseins.

Wien ist der einzige Ort, an dem der Emigrant, der weit fortgegangen ist, nicht seufzt:

„Weit fort, von was?…“ Hier fragt er eher: „Nah, zu was?…“
(Sándor Márai)

In unserer Ausstellung – deren Titel wir von Béla Balázs entliehen haben – möchten wir unseren Besuchern ein Bild von dem Hintergrund des Gefühls räumlicher und kultureller Vertrautheit vermitteln, das Sándor Márai hier beschreibt, ein Bild davon, was dieses Gefühl ausmachte, wie es in den künstlerischen aber auch allgemein menschlichen Erfahrungen zutage trat, beziehungsweise von dem ambivalenten Verhältnis der Ungarn zur Kaiserstadt.

Als Ausgangspunkt dient eine Zeit, in der ein politisch legitimiertes Bündnis – der Ausgleich im Jahr 1867 – seine eigenen gemeinsamen kulturellen Unternehmungen ins Leben ruft. So waren etwa die Österreichisch-Ungarische Nordpolexpedition (1872–1874) oder die Wiener Weltausstellung 1873 Ereignisse, die in Form literarischer Publizistik oder als Inspiration literarischer Werke Einzug in die ungarische Literatur hielten. Ein ähnlicher Prozess ist auch im Fall des Monarchie-Motivs im weiteren Sinne zu beobachten, das als Metapher eines Wertesystems, einer Lebensform, einer Epoche Teil der ungarischen Literatur wurde und im Lebenswerk berühmter ungarischer Prosaschriftsteller – wie Mór Jókai, Gyula Krúdy, Ferenc Herczeg oder Sándor Márai – als zentrales Moment dient. Zur Wirkung des Kaisermythos auf das literarische Leben kommt der Geschichte des Werkes Die österreichisch-ungarische Monarchie in Wort und Bild in der Ausstellung eine zentrale Rolle zu: Die Zusammenarbeit von Kronprinz Rudolf und Mór Jókai an diesem Werk ist ein Beispiel für die Zusammenarbeit des österreichischen kaiserlichen Hofes und dem Vater des ungarischen romantischen Romans, d. h. der Politik und der Literatur.

Die ungarische Literatur erfuhr mit österreichischer Vermittlung zu Beginn des 20. Jahrhunderts jedoch auch Einflüsse anderer Art. Einen räumlichen und gedanklichen Pfeiler der Ausstellung stellt daher ein Raum dar, der sich mit den Schlüsselbegriffen der Ästhetik der Wiener Moderne zur Jahrhundertwende beschäftigt. Hier wird gezeigt, in welchem Maße und in welcher Form diese Begriffe und die diesbezüglichen Dilemmata in den Texten der ungarischen Schriftsteller sowie in den Werken der bildenden Künstler erschienen. Gezeigt werden auch die Wechselwirkungen der österreichischen und ungarischen Moderne in Rezeptionen, sprachlichen Übertragungen und Publikationen. Weiterhin wird an einen besonderen Treffpunkt der in Wien verweilenden ungarischen Künstler erinnert, an die Hermesvilla, und im Zusammenhang damit von ihren Erlebnissen, den Beziehungen untereinander und zu ihren österreichischen Kollegen berichtet.

Aufgrund der politischen Veränderungen nach 1919 war eine Gruppe von Schriftstellern und Künstlern, die sich um Lajos Kassák bzw. die Zeitschrift MA [Heute] versammelt hatte, gezwungen, Ungarn zu verlassen. Ihre Arbeit setzten sie jedoch trotz der schwierigen Umstände auch im Exil fort, ihre Schaffensfreude und Lust am Experimentieren blieb ungebrochen. Die besondere Produktivität der Gruppe während ihrer Wiener Zeit sowie der spezielle Exil-Status stellen einen der Schwerpunkte der Ausstellung dar.

Das Theater sowie verschiedene Gattungen der Unterhaltung (z. B. die Tätigkeit von Ferenc Molnár oder Emmerich Kálmán) brachten ungarischen Autoren wahre Erfolgsserien an den Wiener Bühnen und repräsentieren damit von ungarischer Seite den wohl erfolgreichsten Bereich in der kulturellen Vermittlung.

Die literarischen Wechselwirkungen sind bei ihrer Präsentation in einen weiteren Zusammenhang mit den verwandten Künsten eingebettet, das Material hierzu stammt sowohl aus ungarischen als auch aus Wiener öffentlichen Sammlungen. Für jede Raumeinheit der Ausstellung gilt, dass ihr Ort, auch wenn er auf reale Einrichtungen verweist, nur als inspirierender Ausgangspunkt zu erträumten Schauplätzen tatsächlicher oder aber möglicher kultureller Begegnungen dient.